Über den Autor
Balys Dvarionas (1904–1972)
(Nach Malcolm MacDonald, aus dem Booklet zur CD „Korngold Dvarionas – Vadim Gluzman, Residentie Orkest Den Haag, Neeme Järvi“ von BIS Records AB, Åkersberga, Schweden, 2010)
Der litauische Komponist Balys Dvarionas wurde 1904 als Sohn eines katholischen Kirchenorganisten in der Hafenstadt Liepāja (deutsch: Libau) in der Ostsee-Provinz Kurland des russischen Zarenreiches (heute: Lettland) als eines von 11 Kindern in eine große, musikbegeisterte Familie hineingeboren. Bereits als kleines Kind lernte er Violine, Orgel und Klavier spielen. Statt seines Taufnamens Boleslovas behielt seinen Kosenamen „Balys“ aus der Kindheit zeitlebens auch als Erwachsener bei.
Während seines Studiums an einer Wirtschaftshochschule arbeitete er als Organist in Kirchen, als Pianist bei Stummfilmen und als Leiter eines litauischen Chores. Seine musikalische Ausbildung vervollständigte er an dem renommierten Konservatorium in Leipzig bei Robert Teichmüller (Klavier), Stephan Krohl und Sigfrid Karg-Elert (Musiktheorie und Komposition).
Nach seinem Abschluß im Jahre 1924 verbrachte er zwei Jahre in Berlin, wo er bei Egon Petri Klavierunterricht nahm. Ab 1926 unterrichtete Dvarionas in Kaunas, der damaligen Hauptstadt von Litauen an der Musikschule, die später zum Konservatorium wurde. 1934 besuchte er in Salzburg Dirigierkurse bei Bruno Walter und Herbert von Karajan und nahm außerdem Dirigierunterricht bei Hermann Abendroth am Leipziger Konservatorium.
Von 1935 bis 1938 leitete er das Rundfunk-Symphonieorchester in Kaunas. Ende 1939 übersiedelte er nach Vilnius. Die Stadt war bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Polen annektiert gewesen, nun aber von der Sowjetarmee eingenommen und an Litauen zurückgegeben worden. Hier gründete er das Städtische Symphonieorchester Vilnius, dessen Dirigent er wurde, und im Jahre 1940 das Litauische Nationale Symphonieorchesters (LNSO). Noch im selben Jahr wurde Litauen von der UdSSR annektiert und dann von der deutschen Armee besetzt, bis es 1944 wieder Teil der UdSSR wurde.
Von 1949 bis zum Ende seines Lebens unterrichtete Dvarionas am Konservatorium in Vilnius. Er gab sowohl eigene Konzerte und leitete Konzerte mit weltberühmten Solisten wie David Oistrach, Emil Gilels oder Mstislaw Rostropowitsch. Bei seinem letzten Konzert mit dem Litauischen Kammerorchester am 12. Mai 1972 in der Philharmonie Vilnius spielte er ein Klavierkonzert von Mozart und dirigierte eine Schubert-Messe.
Der lyrische, tonale Charakter seiner Kompositionen sowie sein Anliegen, die Eigenart der litauischen Volksmusik aufzugreifen, stellten ein Rezept dar, das den Parteifunktionären der Sowjetunion annehmbar war, so daß Dvarionas seinem musikalischen Schaffensdrang ohne Einschränkung folgen konnte.
Balys Dvarionas (1904–1972)
Pianist, Dirigent, Pädagoge, Komponist
Von Prof. Ulrich Schmülling
Das Baltikum zählt viele große Musikerfamilien, allerdings nur sehr wenige von der Bedeutung, die die Familie Dvarionas im Laufe von vier Generationen erlangt hat. Seit über 100 Jahren nimmt die Familie am musikalischen Leben des Landes aktiv teil, gestaltet es maßgeblich mit und hat darüber hinaus eine Bekanntheit und Wertschätzung erlangt, die weit über die Landesgrenzen hinausgeht.
Die Familientradition begann mit Dominykas Dvarionas (1860–1931). Vom litauischen Mosėdis zog es ihn einst in das russische Saratow, wo er Barbora Kniukštaitė (1864–1942) heiratete, dann weiter nach Simferopol auf der Insel Krim und 1892 schließlich wieder zurück nach Litauen, wo er in Ylakiai eine Stelle als Organist fand. Nach einem Jahr wurden er und seine junge Familie schließlich in Liepāja (ehem. deutsch: Libau) in der Ostseeprovinz Kurland des russischen Zarenreiches (heute: Lettland) seßhaft.
Hier wirkte er als Organist an einer katholischen Kirche und galt überdies als weithin respektierter Handwerksmeister und Stimmexperte für Musikinstrumente.
In Liepāja wurde auch Balys (Taufname: Boleslovas) Dvarionas geboren: am 19. Juni 1904. Wie alle seine Geschwister hat er schon von frühester Kindheit an eine Verbindung zur Musik gefunden und das Geigen-, Klavier- und Orgelspiel erlernt. Aus sieben der elf Kinder der Familie wurden später professionelle Musiker, von denen jeder aufgrund seiner Erfolge ein ganzes Buch füllen könnte.
Nachdem Balys die Schule beendet hat, verdiente er sich als Jugendlicher seinen Lebensunterhalt als Pianist in Stummfilm-Kinos, als Musiker in Restaurants und als Stellvertreter seines Vaters an der Kirchenorgel. Als 13jähriger leitete er bereits den Jugendchor der Litauischen Gesellschaft.
In dem lettischen Komponisten Alfrēds Kalniņš fand Balys einen wunderbaren und weitsichtigen Lehrer, der ihn dazu ermunterte, bei Jāzeps Vitols in Riga Komposition zu studieren. Balys Dvarionas ging jedoch nach Kaunas, wo sich seinerzeit die gesamte litauische Kulturszene zu konzentrieren begann, nachdem Polen die litauische Hauptstadt Vilnius besetzt hatte. Und weiter führte ihn der Weg in das deutsche Leipzig, das sich zu einer der größeren Hochburgen litauischer Studenten im Westen entwickelte. Hier studierte er in der Pianisten-Klasse des berühmten Robert Teichmüller und bei weiteren großen Musikpädagogen und Künstlern (u. a. Sigfrid Karg-Elert). Die musikalische Szene Leipzigs mit seinem außergewöhnlichen Angebot an Konzerten und Vorstellungen, dem Gewandhaus, der Thomas-Kirche, dem Konservatorium usw. bereicherte Dvarionas’ Wissen in beträchtlichem Maße.
Besonders der Eindruck, den er von dem legendären Arthur Nikisch bekam, blieb ihm zeitlebens in Erinnerung. 1924 absolvierte Balys das Leipziger Konservatorium und debütierte als Pianist am 24. Oktober 1924. Von 1925 bis 1926 studierte er bei Egon Petri in Berlin. Dann kehrte er nach Litauen zurück und begann hier seine Tätigkeit als Pädagoge an der Musikschule, die 1933 in ein Konservatorium umgestaltet und an der er später zum Professor ernannt wurde.
Am 28. April 1931 debütierte er als Dirigent in Kaunas (Solist war Prof. Egon Petri). Am 14. Februar 1932 dirigierte Dvarionas das Berliner Symphonie-Orchester. 1934 nahm er an einem Meisterkurs für Dirigenten teil, der von Bruno Walter und seinem Assistenten Herbert von Karajan im Mozarteum in Salzburg geleitet wurde.
Während des Zweiten Weltkriegs nahmen das Musik- und Kulturleben insgesamt und damit auch die künstlerischen Engagements von Dvarionas erheblich ab. Erst einige Jahre nach Kriegsende erhielt sein Schaffen wieder neuen Auftrieb, als er mit den berühmten Orchestern in Leningrad und Moskau arbeiten konnte, in zahlreichen Städten der gesamten Sowjetunion gastierte, und als weltbekannte Musiker wie Emil Gilels, Heinrich und Stanislaw Neuhaus, David Oistrach, Mstislaw Rostropowitsch u.v.a.m. Litauen zu Konzerten unter seiner Leitung besuchten. Seinen letzten Auftritt auf der Bühne als Pianist und Dirigent hatte Dvarionas am 12. Mai 1972. Am 23. August des gleichen Jahres verstarb er.
Aus seiner Ehe mit der Pianistin Aldona Smilgaitė hinterließ er die Kinder Aldona (1939–2000) und Jurgis (*1943), die ihrerseits als Musiker – Aldona als Pianistin und Jurgis als Geiger und Pädagoge – zu internationalem Erfolg kamen. In der freigeistig geführten und künstlerisch bewegten Familie, in der deutsch und litauisch Umgangssprachen waren, aber auch russisch und englisch gesprochen wurde, waren Gäste stets willkommen. Künstler aller Genres aus dem In- und Ausland gingen hier ein und aus und hinterließen oftmals ihren Einfluß in den Werken von Dvarionas oder initiierten sie sogar.
In seinem künstlerischen Schaffen als Komponist hinterließ Balys Dvarionas ein außerordentlich reichhaltiges Oeuvre, das quer durch alle Besetzungen und musikalischen Formen reicht. Mit einer Musik für eine Komödie von Vytautas Bičiūnas schuf er 1924 sein erstes größeres Werk, das sogleich zu einem vielbeachteten Erfolg wurde. Weitere Kompositionen für Musiktheater folgten.
1931 schrieb er das Ballett „Piršlybos“, eines der ersten in Litauen überhaupt. Auch im Ausland (London und Monte Carlo) wurde es mehrfach aufgeführt wie dies im übrigen vielen seiner Werke widerfuhr. Große Bühnenwerke wechselten mit kleinen musikalischen Werken ab, Kompositionen für Symphonie-Orchester, Kammermusik-Ensembles und Solo-Instrumente, Chorwerke, Lieder und pädagogische Literatur, in der er didaktische Konzepte realisierte, die richtungsweisend für die gesamte Musikausbildung des Baltikums und der Sowjetunion wurden, gehören zu seinem Schaffen. Zu den musikhistorisch bedeutendsten Werken zählen die Symphonie in e-Moll (1947), das Konzert für Violine und Orchester in h-Moll (1948), das als das erste Violinkonzert in der Geschichte Litauens gilt, die Oper „Dalia“ (1956–1958) und das erste Klavierkonzert in g-Moll (1960).
Oftmals griff Balys Dvarionas Motive aus der Volksmusik, der Folklore, auf und formte sie zu facettenreichen Werken der Kunstmusik. Andererseits schrieb er viele eigene Melodien, die sich über die Jahre so sehr verbreiteten, daß sie zu geliebten und allseits bekannten Volksliedern wurden. Balys Dvarionas erwies sich in seiner Persönlichkeit und in seinem künstlerischen Schaffen als eine geniale Synthese aus hochtalentiertem Pianisten, Pädagogen, Dirigenten und Komponisten. Er wurde zu einer der herausragendsten Persönlichkeiten der Iitauischen Künste.
In seinem Credo, das er bis zu seinem Tode aufrechterhielt und das er immer wieder in Vorträgen seinen Studenten gegenüber formulierte, wird deutlich, was sein Schaffen als Künstler insgesamt ausmacht und wodurch er sich von den aufkommenden modernen und zeitgenössischen unter den Tonschöpfern unterscheidet: „Ich glaube, daß es die Berufung eines Musikers ist, Schönheit Tugend und Harmonie zu verbreiten, ebenso wie einen Menschen zu erziehen und ihn über den rein prosaischen Charakter des Lebens hinaus zu heben. Meiner Ansicht nach haben diejenigen Unrecht, die sagen, daß diese Haltung den Kontakt mit der Zeit verlöre. Während vieler Tausend Jahre sind die Ideale der Menschheit in bezug auf die Tugend dieselben geblieben: Liebe, Wahrheit, Freiheit und Freundschaft. Es ist nicht aus der Mode, danach zu trachten.“